Meine Großmutter


Ich erzähle:

Großmutter war grau, grau gekleidet und grauhaarig. Sie trug einen Knoten und ein Haarnetz darüber, mit einigen Haarnadeln festgesteckt. Damit war sie wie in einem Märchenbuch gekleidet. Ich schaute sie oft und lange an, und sie schien es nicht zu bemerken. Gefiel es ihr? Störte es sie? Oder war sie ganz in Gedanken? Klick: hier ist ein Foto von ihr in meiner Erinnerung, schräg von unten, sie hat die Augen niedergeschlagen. Klick von unten und vorn: sie ißt einen Teller Erbsensuppe mit Schwänzchen und Pfötchen. Mit dem großen alten Löffel schlürft sie ein wenig.

Soweit ich mich erinnere, hat Großmutter nie gelacht. Großmutter ruhte wohl immer in sich, so schien mir. Ich nehme an, sie fand das Leben wenig witzig. Habe auch ich ihr keine Freude gemacht? Habe auch ich sie nicht amüsiert? Im Leiterspiel und bei allen anderen Spielen wie Mühle und Dame ließ sie mich oft gewinnen, ein Zeichen, daß ich im Spielen also immer die Schlechtere war. Aufregend dagegen war das gemeinsam mit der Familie gespielte "Mensch ärgere dich nicht". Ja, damals, da ärgerte man sich noch wirklich, wenn man sich ins Gehege kam. Heute würde ich aus Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit nicht eine Figur mehr ziehen. Aber wirklich lustig fand meine Großmutter wohl nichts.

Ein anderer Eindruck drängt sich mir auf: sie ist in einem anregenden Gespräch mit Tante Klärchen und Onkel Soundso. Man trank Likör, rauchte und schnitt Kleider zu und nähte für die Familie, Tante Klärchen konnte nähen. Ich hielt mich nur kurz auf in der Wohnküche, in der nun nur die "Großen " Platz hatten. Ich verstand Großmutter nicht mehr. Sie war aufgeregt, sprach laut von Dingen, die ich nicht verstand und gehörte ganz "zu den anderen", die zu Besuch gekommen waren. Sie war nicht mehr richtig meine Großmutter, obgleich sie noch so aussah. Wenn sie mich jedoch anschaute, mit ihrem stummen Blick, wußte ich, daß sie morgen wieder für mich Großmutter sein würde.

Besonders traf mich, da ich ja nun dachte, meine Großmutter ruhe in sich, daß sie schlecht über andere Leute redete. So etwas würde ich niemals tun, nahm ich mir vor. Nein, so schlecht würde ich niemals sein. Aber so war meine Großmutter nur zu anderen, so würde sie niemals zu mir sein. Mir zeigte sie das Stricken mit aufgeribbelter Wolle, die sie in der obersten Schublade der Kredenz aufbewahrte, in der nun meine Akten fürs Finanzamt sind. Wie oft spielte ich mit dieser Schublade, zog sie auf und zu und staunte über die Wärme, die von all den gebrauchten und immer wieder benutzten Sachen ausging. Wo lag eigentlich immer das Märchenbuch? Sie zauberte es plötzlich hervor, wenn ich verlangte, daß sie mir ein Märchen vorlesen solle. Aber du kannst doch selbst lesen, sagte sie bald, und das Paradies des Zuhörens ging verloren. Oft auch spannte ich eine Decke vom Küchensessel zum Herd und baute so eine Butze. Dann nahm ich das Kochgeschirr aus der unteren Schublade und das ganze Besteck wurde wunderbar märchenhaft.

Eine der letzten Erinnerungen an meine Großmutter waren die Abende, an denen sie allein vor dem Fernseher saß und Operetten schaute, dabei häkelte oder nichts tat, außer im abendlichen Raum nach oben in das helle Licht zu schauen. Da glänzten ihre Augen, und ich konnte und kann mir nicht vorstellen, weshalb.

Was ist nun übrig in meinem täglichen Leben von meiner Großmutter? Ich habe noch eine Obstschale von ihr, die viele bestimmt häßlich finden, aber ich weiß gar nicht, wie ich sie finden soll. Sobald ich sie ansehe, fange ich an zu träumen. Ein kleines Schultertuch aus gehäkeltem Muschelmuster, das sie sich beim Fernsehen, wenn es kühl wurde, immer umhängte und mit einer Nadel mit Jugendstilmuster zusammenhielt, habe ich noch. Beide liegen achtlos in Schrank und Schmuckdose. Die realen Gegenstände besagen nicht mehr allzuviel. Hüten möchte ich meine Träume und Bilder, die ich von ihr habe. Denn sie war bestimmt ein ganz anderer Mensch, als ich je begreifen konnte, da sie, wie ich vor einiger Zeit hörte, nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Ich möchte sie gar nicht mit den Augen meiner Gegenwart sehen, ich würde bestimmt weinen.


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