Madeleines


Unerwartet habe ich bei S. Madeleines bekommen, Sonntags morgens schön sternförmig auf einem Teller angeordnet. Schon beim Hereinkommen durch die Wohnungstür sah ich sie. S. stand ein wenig seitlich von mir, und mein Blick fiel geradeaus durch den Korridor ins Wohnzimmer auf den Couchtisch, wo sie standen. Und ich hatte Hunger. Morgens habe ich meistens Hunger, da das Frühstück, zwei Scheiben Vollkornbrot mit Käse, Frischkäse oder Marmelade, noch im Bett zum Tee gegessen, nicht lange anhält. Je näher ich den Madeleines bei meinen Schritten durch die große Wohnung kam, desto mehr nahmen sie mein Gesichtsfeld ein. Schließlich war mein "Gästeplatz" im Korbstuhl direkt vor dem Teller. Nicht ganz so direkt, denn das wäre ja unhöflich von der Gastgeberin gewesen, mir so einen vollen Teller hinzustellen und selbst nur Kräutertee zu trinken. Ich zögerte nicht lange, und nach ein paar einleitenden Worten zu den Madeleines, die ich ja nun schon lange nicht mehr gegessen hätte, und der Frage, ob sie in Frankreich (S. liebt Paris) denn genau so schmecken wie in Ostwestfalen, griff ich endlich zu. Und schon stellte sich der süße, weiche Geschmack von zergehendem Kuchen auf meiner Zunge ein. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich anfangs meine Zweifel ob des Geschmacks des Kuchens. Ich erinnerte mich an diverse Frischhaltefolien und Plastiktabletts, in denen sich die Madeleines im Supermarkt befinden und deren Durchsichtigkeit immer den Fettglanz des Nahrungsmittels betonen. Auch die lang zurück liegende Erinnerung an gekaufte Madeleines, voller Urlaubsgefühle noch im Bauch mitgebracht aus der Bretagne, war nicht ganz so spektakulär. Im Gegenteil, es schien zu viel Backtriebmittel in ihnen enthalten zu sein und ein bitterer Beigeschmack mischte sich in die Süßigkeit. Ganz zu schweigen von der riesigen Kalorienzahl bei jedem Stück. Aber die Madeleines von heute, ja, die standem einem echten Hungergefühl gegenüber und dem Genuß, der einer gelungenen Überraschung entspringt. Außerdem muß man sagen, nicht jede Madeleine schmeckt gleich...

Ich aß die sternförmig angeordneten Madeleines gegen den Uhrzeigersinn. Ich fing bei 5 Uhr an und machte gegen 2 Uhr Pause. Schließlich naschte S. die 12 Uhr-Madeleine. 1 Uhr blieb übrig und verschwand in meinem Mund. Eine Madeleine braucht nur ungefähr drei Bissen, ein bischen Kauen und Schlucken und dann ist der Mund leer. Wie gewonnen so zerronnen. Es war schwierig für mich, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, das eigentlich bei S. immer sehr interessant ist. Aber die Madeleines sind ja keine richtige Mahlzeit, und so aß ich dann auch immer weniger. Bis ich dann endlich kapitulierte und S. bat, doch den "Rest" zu essen. Was sie dann auch freiwillig und gern tat. Jetzt im Nachhinein fällt es mir richtig schwer, mich an unsere Themen, die wir besprachen, zu erinnern. Aber beim Nachhausegehen dachte ich nicht mehr an die Madeleines, sondern an das Mittagessen.


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